Kritik zu Yves Abel dirigiert französisches Programm an DOB (Deutsche Oper Berlin)

Neue Wege für die Deutsche Oper Berlin?

Kritik von Dr. Kevin Clarke

Man könnte glauben, die Deutsche Oper Berlin war selbst überrascht von der Resonanz, die ihr eigentlich ganz reguläres Orchesterkonzert mit französischen Piecen von Hérold, Chausson, Massenet und César Franck am Montagabend auslöste; jedenfalls waren die Schilder „Heute ausverkauft“ an der Kasse per Hand geschrieben, mit kleinen Kringeln dekoriert und mit Tesafilm festgeklebt, als hätte das Haus entsprechende Schilder professionell gedruckt nicht vorrätig (vielleicht weil es in letzter Zeit so selten vorkam, dass das Haus ausverkauft war und die alten Schilder aus Westberliner Glanztagen inzwischen entsorgt wurden?) Auch vorm Eingang des Theaters tummelten sich ungewohnt große Menschenmassen, die außerdem auffallend anders aussahen, als das übliche Opernpublikum an der Bismarckstraße: Scharen von vorwiegend weiblichen Teenagern und jungen Frauen sowie Jungs unter 10 mit ihren Eltern und Großeltern. Eine interessante Kombination. Die Erklärung für den Andrang heißt David Garrett. Der ‚Popstar unter den Geigern’ – mit dem modelmäßig guten Aussehen und dem einschmeichelnden Portamento – hat auch im Opernhauskontext seine magnetische Wirkung nicht verfehlt und sorgte im Foyer und Zuschauerraum für eine erregt-ausgelassene Stimmung, die ich persönlich mir in der Oper öfter wünschen würde, weil Musik schließlich Spaß machen soll und durchaus einen erotischen Kitzel verträgt... allen Unkenrufen der Alt-68er Generation zum Trotz (dazu gleich mehr).

Zusätzlich war das Montagskonzert eine Zusammenarbeit der Deutschen Oper Berlin mit den Wirtschaftsjunioren Deutschlands, d.h. unter dem Motto „Manager ans Notenpult“ spielten fünf Geschäftsleute in den Streichersektionen des Orchesters mit und diskutierten anschließend, was die Wirtschaft von der Oper lernen könne. An dieser Podiumsdiskussion nahm u.a. der Dirigent des Abends, Yves Abel, teil, ferner der Chefdramaturg des Hauses, Andreas Meyer, und der prominente, in Berliner Operndingen auffallend aktive Stephan Braunfels (mit der Oper 'Die heilige Johanna' von dessen Großvater die DOB in der letzten Saison einen Überraschungshit landen konnte).

Um es gleich vorweg zu sagen: Der erste Teil des Konzerts war die reine unkomplizierte Freude. Schon die hinreißende Ouvertüre zu 'Zampa ou la fiancee de marbre' (dt. ‚Zampa oder die Marmorbraut’) von Louis Joseph Ferdinand Hérold (1791-1833) war ein Knaller, der federnd, frisch, frech und fetzig daherkam. Er machte neugierig auf den Rest der Oper, und ich fragte mich, wieso die DOB ihren ‚Ersten ständigen Gastdirigenten’ Yves Abel, angesichts seiner speziellen Qualitäten und Vorliebe in und fürs französische Repertoire, nicht mit solchen Titeln ins Rennen um die Gunst der Zuhörer der Hauptstadt schickt, im Sinn von ‚Self Profiling’? (Denn französische Titel von Hérold, Auber & Co. sind im gesamten Berliner Opernreigen auffallend absent.) Nach dieser zwischen Rossini-Drive und Suppé-Eingänglichkeit changierenden Eröffnungsnummer kam Garrett aufs Podium, Haare zum Pferdeschwanz gebunden, locker-modisch in schwarz gekleidet. Und legte los, mit dem melancholischen 'Poèm' in Es-Dur von Ernest Chausson (1855-1899), das er mit Glitzerringen und Silberarmband wie eine geflüsterte Liebeserklärung spielte – ein Eindruck, den sein Mimenspiel verstärkte, aber auch das sinnlich eingesetzte Portamento, das Puristen vermutlich als Schmalz abtun würden, das aber im Sinn einer ‚historisch informierten Aufführungspraxis’ durchaus legitim ist. Schließlich ist der Totalverzicht auf Portamenti erst eine Unsitte des unsinnlichen 1970er Jahre Klassikbetriebs. Geflüsterten Charakter hatte auch die folgende Meditation aus Jules Massenets Oper 'Thaïs' (1894), eines der berühmtesten Geigensoli überhaupt, von Garrett wirklich ‚traumverhangen’ gespielt.

Schlichte Mittel, große Wirkung

Es fiel mir auf, dass sein Ton insgesamt ein sehr zurückgenommener ist, klangschön, elegisch, aber auch leise und ‚passiv’ – verglichen mit anderen Geigenstars wie etwas Janine Jansen, die am Mittwoch in Berlin auftreten wird, deren viel aggressiverer Klang wie ein Laserstrahl durch Orchester-Tuttis schneidet. Garrett geht im Orchesterrauschen (bei Chausson z.B.) mehrmals unter, nur um dann wieder mit Nonchalance neu aufzutauchen. Ein Effekt, den man auf seinen CD-Einspielungen nicht merkt, da die Aufnahmetechnik dort seinen ‚kleinen Ton’ kompensieren kann. Allerdings schafft Garrett mit seiner höchst individuellen Portamento-Technik im Piano-Bereich doch einschmeichelnde Klänge, die auf diese Weise nur wenigen heutigen Geigern gelingen. (Er beruft sich selbst gern auf Fritz Kreisler, der allerdings – bei aller vergleichbaren Liebe zu ‚Easy Listening’-Stücken – doch über einen ganz anderen, wesentlich raumgreifenderen Klang verfügte, wie unzählige Liveaufnahmen aus großen Sälen mit großen Orchestern belegen.)

Das Publikum schien jedenfalls hingerissen von Garrett und entlockte ihm eine Sarabande von J.S. Bach (die er mit entzückend zugekniffenen Augen ganz ruhig und verinnerlicht spielte). Und dann kam endlich der Entertainer in ihm voll zum Vorschein, als er das Orchester zu einer improvisierten Pizzicato-Begleitung animierte und dazu Bravourvariationen zu ‚Mein Hut der hat drei Ecken’ spielte. Das Haus tobte... und man merkte, wie einfach es sein kann, eine steife klassische Konzertatmosphäre zu durchbrechen und Stimmung zu machen. Mit schlichten Mitteln. Die man nur einsetzen muss.

In der Pause signierte Garrett dann im Foyer Programme, CDs, Poster, nackte Frauenarme, T-Shirts... und weil der Andrang so gewaltig war (wie ich das bei einer Sängerautogrammstunde in der DOB noch niemals erlebt habe), dauerte und dauerte und dauerte die Pause, ohne dass es deswegen langweilig geworden wäre. Ganz im Gegenteil. Die Stimmung war blendend, bis Garrett per Lautsprecheransage weggerufen werden musste und das Konzert weitergehen konnte mit der Symphonie d-Moll von César Franck (1822-1890). Die wirkte – auf mich – nach dem mitreißenden ersten Teil doch sehr bemüht, es wollte keine rechte Stimmung mehr aufkommen, was man am vielen Husten, Räuspern, Weggehen und Flüstern merkte. Man merkte auch, dass kein übliches Klassikpublikum anwesend war, weil nach jedem der drei Sätze geklatscht wurde, woran sich aber glücklicherweise niemand störte.

Neben mit saß der 9-jährige David mit seiner Familie (Mutter, Vater, Großmutter), der selbst Geige spielt und mir erklärte, dass er ein großer Garrett-Fan sei und sein Idol schon zweimal im Tempodrom mit Band erlebt hätte. Das Konzert am Montag war sein erster Besuch in der DOB (‚wo die Eintrittskarten billiger sind als im Tempodrom’), und er war sichtlich begeistert vom Ganzen, auch wegen der vier Autorgramme, die er in der Pause kriegen konnte. Die wuchtige Franck-Symphonie hatte zwar trotz anonymer Wiedergabe durch Abel und Orchester Eindruck auf ihn gemacht (‚toll, wenn die alle zusammen spielen’), aber: ‚Mehr Musik mit David Garrett im zweiten Teil hätte mir besser gefallen!’ (Dem kann ich nur zustimmen.)

Offensichtlich schafft Garrett im Alleingang das, was viele edukative Programme in Jahren nur schwer schaffen: neue Publikumsschichten in Konzertsäle und Opernhäuser locken. Wieso die DOB diese einmalige Chance nicht nutzte, um im zweiten Teil des Abends auf ihr reiches und wunderbares Repertoire aufmerksam zu machen (mit der 'Carmen'-Suite usw.), ist mir persönlich schleierhaft. Eine vergeudete Chance, vermutlich. Denn so bald steht Garrett nicht wieder auf dem Programm der DOB.

Nach Ablauf des Konzerts fand im oberen Foyer noch besagte Diskussion statt, bei der Braunfels das Haus zu einem der ‚architektonisch besten der Welt’ erklärte, auch wenn es dringend ein ‚Facelifting’ bräuchte (das er natürlich gern selbst übernehmen würde). Als einer der Diskutanten erklärte, man könnte an Musik gut unterscheiden lernen, ob Gefühle und Äußerungen ‚echt’ oder ‚fake’ seien, meldete sich Braunfels noch mal zu Wort und sagte, das habe man ja an diesem Abend ausgiebig beobachten können. Damit meinte er vermutlich Garretts Auftritt – der scheinbar polarisiert, besonders Menschen wie Braunfels, Student der Jahre 1970 bis 1975. Als es später in der Diskussion um Peter Gelb ging, den Managing Direktor der Metropolitan Opera New York, der am Sonntag in der American Academy in Berlin einen Vortrag zu ‚Opera in the 21st Century’ gehalten und dabei deutlich gemacht hatte, dass der finanzielle Erfolgsdruck, der auf amerikanischen Häusern lastet, auch kreativ macht und zu spannenden Projekten führt (wie etwa den Kinoübertragungen aller neuen Met-Produktionen via Satellit), erklärte wiederum Braunfels, dass in den letzten 50 Jahren sowieso keine nennenswerten Produktionen aus den USA gekommen seien und überhaupt der künstlerische Erfolg einer Produktion nicht an Kartenverkauf und Publikumsresonanz gemessen werden dürfe (!). Als ich Braunfels an der Garderobe nochmals auf dieses Thema ansprach, schimpfte er wüst auf Peter Gelb und die Produktionen, die an der Met gezeigt würden, speziell auch die Titel von John Adams, der für Braunfels offenbar das Tiefste ist, wohin die Branche musikalisch sinken könne. (Obwohl Simon Rattle die Musik Adams ab und an mit den Philharmonikern spielt.) Dass jemand seine Meinung zur ‚viel besseren Musik von Reimann und Rihm’ eventuell nicht teilt und lieber John Adams' 'Doctor Atomic' statt 'Oedipus' oder 'Die Eroberung von Mexico' hören möchte, ließ Braunfels nicht gelten, was zu einer recht wüsten Beschimpfung des Schreibers dieser Zeilen auf mitternächtlicher Straße führte (‚dann ziehen Sie doch in die USA, wenn Sie diesen Quatsch an der Met sehen wollen’). – Eine interessante zwischenmenschliche Erfahrung, keine Frage. Die übrigen Manager bei der Diskussion (ebenso wie die meisten Teilnehmer am Vortrag in der American Academy) zeigten sich bei diesem Thema deutlich offener und interessierter an dem, was die Met aktuell vormacht an Vermarktungsstrategien von Oper, mit denen ein neues Publikum für die Kunstform gewonnen werden soll.

Die Deutsche Oper Berlin hat mit diesem David Garrett-Konzert gezeigt, dass sie in der Lage ist, ansatzweise solche Wege ebenfalls zu gehen. Ich persönlich würde mir wünschen, dass solche Wege in Zukunft noch öfter gegangen würden und ich noch oft neben dem 9-jährigen David in der Oper sitzen darf, um mir seine begeisterten, aber durchaus kritischen Kommentare anzuhören. Vielleicht wird ja die Spielzeiteröffnung der DOB – wenn schon nicht auf den Times Square – so doch an einen anderen ungewöhnlichen Ort übertragen. Wie wär’s mit den TV-Monitoren in den Berliner U-Bahnen? Das hat bislang nicht mal Peter Gelb geschafft, vermutlich weil’s solche Monitore in New York nicht gibt.